04.08.2011

Der Professor aus dem Rechner

Professor Jörn Loviscach von der FH Bielefeld stellt seine Vorlesungen in Mathematik und Informatik für jedermann frei ins Internet.

Bielefeld (fhb). Wenn Professor Dr. Jörn Loviscach von der Fachhochschule (FH) Bielefeld eine Vorlesung hält, sitzt nur knapp die Hälfte seiner Studentinnen und Studenten im Hörsaal. Die anderen bleiben zu Hause oder gehen ihrem Broterwerb nach. Das stört den Professor nicht; er ist sogar selbst dafür verantwortlich. Professor Loviscach stellt seit dem Sommersemester 2009 seine Vorlesungen in Mathematik und Informatik für jedermann frei ins Internet. Mit diesem virtuellen Lernraum spielt er in Bielefeld eine Vorreiterrolle.

„Klassische Vorlesungen lassen sich durch Internetvideos ersetzen“, sagt Professor Loviscach. Er verstehe die Mathematik als Werkzeugkasten. Im Video könne er den Studierenden genauso gut wie in der Vorlesung zeigen, welche Teile sich im Kasten befinden und wie diese funktionieren. Doch damit habe der virtuelle Lernraum seine Grenzen erreicht: „Wer nur glotzt, kann die Werkzeuge nicht selbst handhaben.“ Für Seminare und Übungen, die über das rein Mechanische hinausgehen, biete das Internet kaum Ersatz.

Millionen Klicks auf die Vorlesungsvideos von Jörn Loviscach

Professor Loviscach spricht aus Erfahrung. Rund 1.600 Videos hat er in den letzten zwei Jahren produziert. Inhaltlich reicht das Spektrum von elementarer Bruchrechnung über Differenzialgleichungen bis hin zu Vektoranalysis. Der überwiegende Teil der Videos sind Live-Mitschnitte aus Vorlesungen. Professor Loviscach verwendet dafür einen Tablet-PC – einen Laptop mit beschreibbarem Bildschirm. Mit dem Computerstift skizziert er auf dem Display die geometrischen Ideen hinter den mathematischen Formeln und Regeln. Die Studierenden im Hörsaal verfolgen das per Beamer. Sie sind interaktiv in die Vorlesung eingebunden. Bei Fragen und Diskussionen pausiert die Aufnahme.

„Am Ende jeder Vorlesung habe ich eine Hand voll Videodateien, die ich praktisch eins zu eins ins Internet stelle.“ Alle Programme, die Loviscach bei der Produktion der Internetvorlesungen verwendet, sind kostenlos. Um den Zeitaufwand zu minimieren, hat er eigene Zusatzprogramme entwickelt. So markiert er beispielsweise per Mausklick schon in der Vorlesung Fehler oder Versprecher, um sie dann in der Nachbearbeitung ohne Suchen herauszuschneiden. Die Orientierung im Video erleichtert ihm zudem ein Programm, das die gesprochene Sprache in lesbaren Text umwandelt.

Kleine Wissenspakete statt 90-Minuten-Klopfer

Die Vorteile des E-Learning (elektronisch unterstütztes Lernen) haben auch andere deutsche Hochschulen für sich entdeckt. „Die meisten Vorlesungen im Internet sind von Assistenten gefilmte und nachbearbeitete 90-Minuten-Klopfer“, weiß Professor Loviscach. Bei dem FH-Professor beschränkt sich dagegen jedes der mit Minimalaufwand produzierten Videos auf ein eng umrissenes Thema. „Anfangs waren auf Youtube nur Videos von knapp elf Minuten Länge erlaubt. Diese Beschränkung war heilsam.“ Professor Loviscach teilte seine Vorlesungen in kleine Wissenspakete auf. Auch als Ende 2010 das Zeitlimit fiel, hielt der Professor an den kleinen Einheiten fest, um die Suche im Internet zu vereinfachen und in der Live-Vorlesung überschaubare Abschnitte zu bilden.

Die Resonanz auf Loviscachs Videos ist sehr gut. Etwa 5.500 Personen, Studierende ebenso wie Schüler und gestandene Ingenieure, abonnieren die Filme. Sie stammen vorwiegend aus Deutschland, aber auch aus den USA, aus der Schweiz und aus Polen. Pro Tag verzeichnet Loviscach rund 5.000 bis 9.000 Abrufe. Insgesamt wurden die Filme knapp drei Millionen mal angeschaut. Der Vorteil liegt auf der Hand: Vom Schreibtisch oder vom Sofa aus kann man sich unabhängig von Zeit und Ort zu einem klar umrissenen Thema informieren. Zudem können Nutzer im Netz über die Videos diskutieren oder Fragen stellen. „Ich bin nicht der Beste im Kopfrechnen. Bei so vielen Videos erzählt man irgendwann mal Unsinn. Dann lasse ich mich auch belehren, aber nur zähneknirschend“, sagt Loviscach und schmunzelt. Korrekturen nimmt er mit Sprechblasen vor. Sie lassen sich mit wenigen Mausklicks sekundengenau über das Video legen.

Bei allem positiven Feedback gibt sich der Professor mit dem derzeitigen Stand nicht zufrieden. Ein Problem sei beispielsweise die Darstellung des Stiftes auf dem Bildschirm. „Die Studierenden sehen nur einen kleinen Punkt mit einem roten Ring. Die Schrift kommt quasi aus dem Nichts.“ Deshalb hat der Professor seinen Arm fotografiert und grafisch in Teile zerstückelt. Diese werden mit Hilfe einer selbst entwickelten Software so über den Bildschirm bewegt, dass es aussieht, als würde Loviscach auf dem Display schreiben. Auf Wunsch einiger Zuschauer taucht der FH-Professor in den aktuellen Videos auch selbst auf. Dazu filmt er sich mit einer Web-Kamera, deren Bild quasi hinter den Bildschirm gelegt wird. Das Ergebnis: Professor Loviscach scheint im Halbdunkel hinter einer virtuellen Glaswand zu stehen, die er von hinten beschreibt. Die diversen Programme, die er eigens für solche Bearbeitungen entwickelt hat, stellt er im Herbst dieses Jahres auf drei internationalen Konferenzen vor; Anfang September berichtet er in Dresden auf der deutschen E-Learning-Konferenz DeLFI über sein Lehrkonzept.

www.youtube.com/joernloviscach