21.05.2014

Zuhören will gelernt sein

Jozef Vervoort hält Gastvortrag über Horchtherapie.

Bielefeld (fhb). Erst hören, dann zuhören. Nach diesem Credo behandelt der Belgier Jozef Vervoort seit Jahren erfolgreich Kinder, die Lern-, Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen haben. Mit Musik von Mozart und der Stimme der eigenen Mutter lässt er sie erneut die Phasen der Hörentwicklung im Mutterleib durchlaufen. Mit Erfolg: Die Kinder zeigen nach kurzer Zeit Fortschritte beim Hören und Sprechen sowie in der gesamten Wahrnehmungsfähigkeit. Über seine Arbeit hat Vervoort am Dienstag, 20. Mai, einen Vortrag am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld gehalten.

Seit 30 Jahren arbeitet Vervoort nach der Tomatis-Therapie, die er bei ihrem Begründer, dem Hals-Nasen-Ohren-Arzt Professor Dr. Alfred Tomatis, kennenlernte. 1972 war Vervoort zu Gast in dessen Praxis in Paris, um seinen geistig behinderten Sohn therapieren zu lassen, der bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen hatte und in seiner Sprachentwicklung stark verzögert war. Vervoort wandte sich an Tomatis, weil dieser in vielen Forschungen aufgezeigt hatte, dass das Gehör enorm wichtig für die menschliche Entwicklung ist, besonders im Zusammenhang mit der Psyche und der Sprache. Er erkannte, dass das Hören nicht gleichzusetzen ist mit der Fähigkeit des Menschens zuzuhören. Daraus entwickelte er die Audio-Psycho-Phonologie (APP). "Wir bestimmen sehr oft selbst, was wir hören wollen und was nicht", erklärte Vervoort den gut 50 Studierenden bei seinem Vortrag

Die APP arbeitet mit dem sogenannten Horchtest und dem Brain-Mapping, die zeigen, welche Tonhöhen Kinder mit Lern-, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen gut hören können und welche nicht gut bei ihnen ankommen. Je weiter diese Tonhöhen auseinander liegen, desto weniger können sie etwa das Gesagte ihrer Eltern aufnehmen und umsetzen. "Ein Kind, das wir als Zappelphilipp bezeichnen würden, reagiert sehr gut auf alle hohen und lauten Frequenzen, also meistens alles, was im Hintergrund passiert und es ablenkt. Die leiseren und tieferen Stimmen der Eltern nimmt das Kind hingegen nicht gut auf. Die Kommunikation mit der Außenwelt ist gestört", so Jozef Vervoort. Das habe aber nichts damit zu tun, dass das Kind generell nicht gut hören kann. Das Gehör an sich ist medizinisch völlig in Ordnung, nur die Verarbeitung im Gehirn verläuft fehlerhaft. Hören-Wollen oder Horchen (Zuhören, Hinhören) sei im Gegensatz zum Hören ein aktiver, willentlicher Vorgang.

Ziel der Tomatis-Therape ist es, dass die Kinder wieder das richtige Zuhören lernen. Mit bestimmten Frequenzen werden die Regionen im Gehirn aktiviert, die etwa für die Sprache oder die Motorik zuständig sind. Die Kinder bekommen über Kopfhörer mehrmals am Tag für jeweils 90 Minuten die Stimme ihrer Mutter zu hören. Allerdings nur in einer bestimmten Frequenzhöhe. Was dabei von der Stimme übrig bleibt, sind hauptsächlich "Sch-", "S-" und "W"-Laute. Das sind die Laute, die ein Fötus von der Stimme der Mutter am besten hört. "Wir setzen an der ersten Kommunikation zwischen Mutter und Kind an und erwecken damit das Kind, wie es vor der Geburt war. Das stimuliert den Hör- und Gleichgewichtssinn und trainiert die Wahrnehmungsfähigkeit", so Vervoort. Neben der Stimme setzt die Tomatis-Therapie auch Musik von Wolfgang Amadeus Mozart oder spezielle Gregorianische Gesänge ein. Bei Vervoorts Sohn zeigte sich nach den ersten Tagen bereits, dass der Junge insgesamt wacher war, im Kindergarten auf einmal mit anderen Kindern spielte, was er vorher nie getan hatte, und auch seine Sprache langsam besser wurde.

Wenige Wochen später begann Jozef Vervoort selbst mit einer Ausbildung zum Tomatis-Therapeuten. Heute leitet er das renommierte Zentrum Atlantis inmitten von Sint-Truiden in Belgien, bildet selbst Therapeuten in mehreren Sprachen aus und entwickelt die für die Therapie notwendigen Geräte weiter. Rund 35.000 Kinder und Erwachsene hat der ehemalige Schuldirektor bis heute gemeinsam mit einem kleinen Stamm von Therapeuten behandelt. "Diese Therapie bringt wieder eine Balance in die Kinder, denn sie setzt ganz an der Wurzel der menschlichen Entwicklung an", so Vervoort.