07.12.2020

Familien mit Kindern im Teil-Lockdown: FH-Bielefeld-Expertin fordert mehr Entscheidungsfreiheit und mehr Hilfen

Prof. Dr. Helen Knauf hat zwei Studien zum Lockdown veröffentlicht. Die meisten Familien mit Kindern haben sich demnach in dieser Zeit als robust erwiesen. An den Bestimmungen rund um den aktuellen zweiten Teil-Lockdown gibt es aber auch Kritik von der Familienwissenschaftlerin.

Bielefeld (fhb). Konzentriert und zugleich erschöpft sitzt Monica Exposito Pozo im heimischen Wohnzimmer vor ihrem Laptop und nimmt an einer Online-Vorlesung teil. Tochter Noa, zwei Jahre alt, sitzt auf ihrem Schoß, während die sechsjährige Laura gemeinsam mit ihrer vierjährigen Schwester Sophia in der Wohnung Fangen spielt. Ehemann Thorsten Hänsel arbeitet derweil ebenfalls im Home-Office – im Nebenraum.

Zwar sind die Kinder unter der Woche in Kindergarten und Schule untergebracht, jedoch bleibt immer noch viel Zeit des Tages, in der Eltern und Kinder vor der Herausforderung stehen, Familien- und Berufsleben in den eigenen vier Wänden unter einen Hut zu bringen. Oft genug ist Multitasking angesagt. „Häufig müssen wir uns bei der Kinderbetreuung tagsüber abwechseln. Wäre das Studium nicht inzwischen als Online-Studium organisiert, oder wenn mein Arbeitgeber kein Homeoffice anbieten würde, hätte meine Frau ihr Studium bereits aufgeben müssen“, sagt Thorsten Hänsel.

So wie die Familie Hänsel Exposito aus dem Kreis Lippe sind zahlreiche Familien seit dem Start des Teil-Lockdowns wieder stärkeren Belastungen ausgesetzt. Expertin für die Auswirkungen der Einschränkungen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie auf Familien mit Kindern ist Prof. Dr. Helen Knauf vom Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld. Knauf hat bereits zwei Studien zum Thema vorgelegt, in denen Belastungen, aber auch Chancen der veränderten Lebensverhältnisse während der Pandemie herausgearbeitet wurden.

Die Erziehungs- und Familienwissenschaftlerin unterscheidet zwei Gruppen von Familien mit Kindern im Teil-Lockdown: „Die Mehrheit der Familien kommt trotz der gestiegenen Belastungen relativ gut mit der Krise zurecht. Meine Untersuchungen haben ergeben, dass Familienbande sogar gestärkt werden durch den höheren Anteil gemeinsamer Aktivitäten. Eltern und Kinder unternehmen einfach mehr miteinander als früher. Es wird mehr gebacken und gekocht. Heimwerk- und Hausarbeiten werden öfter zusammen erledigt. Brettspiele und Bastelarbeiten erleben eine Renaissance. In diesen Aktivitäten stecken zahlreiche Bildungs- und Lerngelegenheiten, und die können Familien gerade jetzt während der Weihnachtszeit wieder nutzen.“

Es gibt aber auch eine Minderheit, die durch den Teil-Lockdown unter extremen Druck gerät oder sogar in Not ist: „Diese Gruppe wird größer, je länger der Teil-Lockdown dauert“, so Helen Knauf: „Hart ist es für die Familien, deren Existenz auf dem Spiel steht, weil die Eltern ein Restaurant betreiben, als Bedienung arbeiten oder in der Veranstaltungsbranche tätig sind. Wir sollten nicht vergessen, dass die wirtschaftlichen Folgen des Teil-Lockdowns mittel- und langfristig viele Familien treffen werden.“

Die Wissenschaftlerin würde sich von der Politik in NRW mehr Vertrauen in die Familien wünschen: „Deutschland ist auch deswegen bislang verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen, weil sich die meisten Menschen diszipliniert verhalten haben. Diese Vernunft und Umsicht sollten wir nicht gefährden. Die große Mehrheit der Familien kann sehr kompetent selbst entscheiden, was in der Krise der richtige Weg für sie ist.“

Die Professorin nennt dafür zwei Beispiele: „Einige Bundesländer ermöglichen es Schülern, nicht am Präsenzunterricht teilzunehmen, sondern auf Distanz zu lernen, um Angehörige mit Vorerkrankungen besser zu schützen. In anderen Familien wiederum, in denen zum Beispiel in der Wohnung wenig Raum oder wenig Zeit für die Betreuung zur Verfügung steht, sind Sportangebote an der frischen Luft für die Kinder und Jugendlichen unverzichtbar, um gut durch die Krise zu kommen. Hier müssten die strengen Regeln für Vereine gelockert werden.“

Ihr aktuelles Resümee lautet: „Familien brauchen keine staatliche Bevormundung – auch nicht unter dem Deckmantel der Prävention. Sie brauchen aber Hilfe, insbesondere die weniger privilegierten!“

Zum Hintergrund: Die erste Studie von Prof. Dr. Helen Knauf zu Familien mit Kindern während der Corona-Krise wurde im Mai dieses Jahres von der Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlicht. Hier untersuchte die Professorin für Bildung und Sozialisation anhand von Familienblogs im Internet, wie Eltern ihre Situation beschreiben und welchen Belastungen Familien aufgrund der Corona-Beschränkungen ausgesetzt sind. In der zweiten Untersuchung interviewte Knauf zwanzig Elternteile während der Schul- und Kitaschließung im Frühjahr, um herauszufinden, wie Familien mit der neuen Situation umgingen. Laut der Wissenschaftlerin zeigte sich in beiden Studien deutlich, dass Eltern zwar immer häufiger an der Belastungsgrenze agierten je länger die Krise dauerte. Als positiv stellte sich Knauf zufolge jedoch heraus, dass in einer Vielzahl von Familien das soziale und alltagspraktische Lernen eine größere Rolle spielte, der Zusammenhalt gestärkt wurde und die erschwerte Beschulung keine nennenswerten Defizite hervorbrachte.

Auch Familie Hänsel Exposito kann trotz des zunehmenden Alltagsstresses der Krise auch positive Aspekte abgewinnen: „Da mein Mann und ich von zu Hause arbeiten können beziehungsweise müssen, fällt das tägliche Pendeln weg. Durch den zusätzlich fehlenden Termindruck haben wir deutlich mehr Zeit, die wir gemeinsam als Familie genießen. Insbesondere die täglich miteinander eingenommenen Mahlzeiten und Unternehmungen an der frischen Luft sind uns lieb und teuer!“, so Monica Exposito Pozo. (lk)