25.10.2017

Eine „Pflegekultur“ entwickeln!

InBVG-Kolloquium: Erwerbsarbeit (ehemals) pflegender Angehöriger – Hindernisse und Unterstützungsmöglichkeiten (EePA)

Im Rahmen des InBVG-Kolloquiums am 18.10.2017 haben Prof. Dr. Norbert Seidl und Matthias Voß (MA) erste Forschungsergebnisse des Projekts EePA vorgestellt, das sich mit der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und häuslicher Angehörigenpflege beschäftigt. Das Projekt mit einer einjährigen Laufzeit wird durch den hochschulinternen Forschungsfonds 2016 für neuberufene Professorinnen und Professoren finanziert.

Sich mit Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege auseinanderzusetzen, gewinnt nicht zuletzt in Anbetracht des demografischen Wandels und der steigenden Zahl hilfe- und pflegebedürftiger Menschen an Bedeutung. Der Großteil der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen wird von Familienangehörigen versorgt und Berechnungen zufolge pflegen ca. 65% der Erwerbstätigen (20 bis 65 Jahre) einen Angehörigen. Gute Rahmenbedingungen zu schaffen, um Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege miteinander vereinbaren zu können, ist eine zentrale gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Aufgabe. Dass diese Aufgabe noch nicht genug Aufmerksamkeit findet und noch lange nicht gelöst ist, zeigen die auszugsweise präsentierten Projektergebnisse in beeindruckender Weise.

(Bild: Matthias Voß (MA) und Prof. Dr. Norbert Seidl)

Das Projekt zielt u.a. darauf ab, fördernde und hemmende Faktoren aus Sicht erwerbstätiger und ehemals erwerbstätiger Personen, die die häusliche Pflege von Angehörigen übernehmen, zu identifizieren. Darauf aufbauend werden Empfehlungen abgeleitet, die die Erwerbstätigkeit ermöglichen bzw. den Wiedereinstieg in den Beruf nach einer längeren Pflegetätigkeit erleichtern. Basierend auf qualitativen Einzelinterviews wurden u.a. Gründe für die Aufgabe bzw. den Verbleib in der Erwerbstätigkeit, das subjektive Belastungserleben, Unterstützungsmöglichkeiten und Erfahrungen in der Arbeitswelt erhoben. Darüber hinaus wurden quantitative Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität (SF 36) und des Belastungserlebens (HPS) eingesetzt.  

Die Befragungsergebnisse belegen erneut den hohen subjektiven Stellenwert von Berufstätigkeit, die sich über die Sicherung des Lebensunterhaltes und die Alterssicherung hinaus positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt und der Selbstverwirklichung dient. Gelegentlich stellt die berufliche Tätigkeit sogar eine „willkommene Auszeit“ neben der belastenden Pflegetätigkeit dar. Mit der Aufgabe der Erwerbstätigkeit oder der Befürchtung den Arbeitsplatz zu verlieren, sind Ängste vor finanziellen Einbußen, Altersarmut und Verschuldung verbunden. Die Pflege eines Angehörigen zu übernehmen, bedeutet häufig auch, eigene Lebenspläne und Lebensentwürfe zurückzustellen oder gänzlich aufzugeben. Die Ergebnisse machen zudem darauf aufmerksam, dass eine „Pflegekultur“ im betrieblichen Kontext erst wachsen muss. Angst vor Stigmatisierung, Unverständnis von Vorgesetzten und Kolleg/innen, Sorgen als nicht leistungsfähig und nicht zuverlässig zu gelten sowie fehlende Arbeitszeitflexibilität und mangelnde Gestaltungsmöglichkeiten führen mitunter dazu, dass die Pflege Angehöriger und die daraus resultierenden Bedürfnisse in viele Fällen nicht offen angesprochen werden. Seine Angehörigen zu pflegen, bleibt somit weitestgehend ein Tabuthema in der Arbeitswelt. Des Weiteren zeigen die Forschungsergebnisse, dass auch existierende Angebote aufgrund von Unwissenheit, bürokratischer Hürden, unzureichender finanzieller Möglichkeiten und fehlender Kraftreserven häufig nicht wahrgenommen werden. Neben einer gezielten Ausweitung spezieller Entlastungsangebote für Arbeitnehmer/innen (Tagespflege, flexible Arbeitszeiten, Urlaubsregelungen, Pflegezeiten, Rentenberechnungen etc.) ist eine über Beratung hinausgehende Begleitung erforderlich. Über eine politische Neuausrichtung und gesetzliche Maßnahmen hinaus, die die Angehörigenpflege und die Erwerbstätigkeit ermöglichen und fördern, spielen die Unternehmen eine zentrale Rolle bei der Etablierung einer Pflegekultur. Erforderlich sind eine Enttabuisierung und eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen pflegender Arbeitnehmer/innen. Spätestens die abschließende Diskussion im Plenum machte deutlich, dass es sich um ein vielschichtiges, persönlich und politisch relevantes Thema handelt und familiäre Sorgearbeit als Bestandteil des Lebens insgesamt zu wenig gesellschaftliche Anerkennung erfährt.

Die Veröffentlichung eines abschließenden Forschungsberichts ist Ende des Jahres zu erwarten.

Text: Angela Nikelski

(Bild: Matthias Voß (MA) und Prof. Dr. Norbert Seidl)